75 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus Die Deutschen und der 08. Mai 1945 – Zwischen Amnesie und Erinnerungskultur

Autor: sisugoethe Datum: Fr, 05/08/2020 - 13:13 Tags: Deutsch lernen

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit auch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Es dauerte Jahrzehnte, bis man sich in Deutschland an diesen Tag als Tag der Befreiung erinnerte.

Sechs Jahre Krieg und mehr als 60 Millionen Tote: Mit dem Inkrafttreten der Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr endete die nationalsozialistische Terrorherrschaft endgültig.

Die absehbare Niederlage

Dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verlieren würde, zeichnete sich bereits seit Januar 1943 ab. Nach und nach drängten die Alliierten die deutsche Wehrmacht aus allen Himmelsrichtungen zurück. Nach der Einkesselung der deutschen Wehrmacht durch sowjetische Truppen in Stalingrad und der anschließenden Kapitulation war die militärische Offensive der Wehrmacht in Osteuropa endgültig gescheitert. An der Westfront brachte die Landung der alliierten Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 die Wende. Am 21. Oktober eroberten sie mit Aachen die erste deutsche Großstadt. Die Rote Armee überschritt im Januar 1945 die Grenze zum Deutschen Reich, am 27. Januar befreite sie die Überlebenden des Konzentrationslagers Ausschwitz. Von dort hatten die Nationalsozialisten noch kurz zuvor 67.000 Menschen auf so genannte Todesmärsche geschickt. Alleine in Auschwitz hatten die Nazis etwa eine Million Menschen ermordet. In München endete die Nazi-Herrschaft am 30. April 1945 mit dem Einmarsch der US -Armee. Am Tag davor, dem 29. April 1945, waren die Insass*innen des Konzentrationslagers in Dachau durch Angehörige der US-Armee befreit worden.

Deutschland kapituliert vollständig

Nach der Kapitulation Berlins am 2. Mai 1945 wurde am 7. Mai im Hauptquartier der Alliierten im französischen Reims die bedingungslose Gesamtkapitulation der deutschen Armee unterzeichnet. Die bedingungslose Kapitulation trat am folgenden Tag, dem 8. Mai 1945, in Kraft. Dasselbe geschah am 9. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst. Im Osten stellten sowjetische und deutsche Soldaten ihre Kämpfe erst drei Tage später endgültig ein. Teile der NS-Führungselite waren zu diesem Zeitpunkt bereits geflohen oder hatten sich – wie Hitler und Goebbels – durch Selbstmord der Verantwortung für Völkermord und Kriegsverbrechen entzogen.

So unterschiedlich das Datum der jeweiligen Befreiung vor Ort war, galt der 8. Mai lange Zeit vor allem in Westdeutschland vorrangig als Datum der eigenen Niederlage. Es galt sich mit einem Ereignis auseinanderzusetzen, dass zugleich Untergang und Auferstehung bedeutete. Bevor sich in Ost- und Westdeutschland gegensätzliche Narrative über das Kriegsende herausbildeten, durchlebte die deutsche Gesellschaft mehrheitlich eine „Stunde Null“, in der die Sorge um das eigene Überleben in der Gegenwart jede nähere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie mit der Zukunft zu verschlucken schien. Nicht nur der empfundene Verlust der Zukunft verdrängte bei vielen eine Auseinandersetzung, sondern auch eine schockartige Abkehr von der Vergangenheit, bei der zwei Haltungen vorherrschten: Verdrängen des Geschehens oder Verneinung der eigenen Beteiligung bzw. Mitschuld.

1970 hielt Gustav Heinemann als erster Bundespräsident Deutschlands eine Rede zum 8. Mai, fünf Jahre später sprach sein Nachfolger Walter Scheel in seiner Rede den Befreiungscharakter des 8. Mai an. Jedoch erst die Rede Richard von Weizsäckers 1985 zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs war schließlich Ausdruck für ein Umdenken und legte das Fundament für ein grundsätzlich neues Verständnis dieses Datums.

Historische Rede im Bundestag

Bundespräsident Weizäckers Rede vor dem Parlament in Bonn am 8. Mai 1985 gilt bis heute als eine der wichtigsten Reden der deutschen Nachkriegszeit. Weizsäcker rückte den Tag ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit und trug durch seine Interpretation als Tag der Befreiung und Erinnerung zu einem neuen Grundverständnis der Erinnerungskultur in Deutschland bei: Nicht Kapitulation und Niederlage, sondern Befreiung von Krieg und nationalsozialistischer Diktatur sollten von nun an im Vordergrund stehen. Mit den Worten "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" stellte er zudem klar, dass die Shoah, der Genozid an den Juden, nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt werden dürfe.

In der DDR war der 8. Mai zwischen 1950 und 1967 und im Jahr 1985 ein Feiertag und als Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus durch die Rote Armee erinnerungspolitisch eindeutig besetzt. Diese Deutung sollte den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR und die Verbundenheit zur Sowjetunion in der Bevölkerung festigen – die Frage nach der eigenen Schuld und Verantwortung wurde dabei jedoch ausgeklammert.

Der 8. Mai heute

Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 wurde um den richtigen Umgang mit diesem komplexen Datum gerungen. Mittlerweile ist der 8. Mai als Gedenktag für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wegzudenken. Bis heute andauernde Bestrebungen von Neonazis diesen Tag erinnerungspolitisch zu vereinnahmen, zeigen sich wirkungslos. Viele Europäer*innen feiern den 8. Mai als "VE Day", kurz für "Victory in Europe", als den Sieg über den Faschismus und einen Neubeginn für den gesamten Kontinent. In Frankreich etwa ist der 8. Mai ein gesetzlicher Feiertag, in den Niederlanden wird am 5. Mai mit einem gesetzlichen Feiertag an die Befreiung von der deutschen Besatzung erinnert und in Russland, dessen Vorgängerstaat Sowjetunion nach Schätzungen bis zu 27 Millionen Todesopfer zu beklagen hatte, gilt dasselbe für den 9. Mai.

Zum diesjährigen 75. Jahrestag ist der 8. Mai in Berlin ein staatlicher Feiertag. Aufgrund der Coronakrise musste der Staatsakt in Berlin sowie zahlreiche weitere öffentliche Gedenkveranstaltungen in der ganzen Bundesrepublik abgesagt werden. Dennoch wird vielerorts mit unterschiedlichen Aktionen on- wie offline dieser „Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs“ (Martin Sabrow) begangen.

Ursprünglicher Text , angepasst und ergänzt, von der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung:

https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/205925/befreiung-vom-nationalsozialismus