Zwei deutsche Dichter zu Gast in Nanjing

Autor: nanjing Datum: Do, 12/05/2019 - 14:38 Tags: Veranstaltungen

Dieter M. Gräf und Sebastian Unger stellen ihre neuesten Werke vor

Die beiden deutschen Dichter Dieter M. Gräf und Sebastian Unger stellten am 18. November im Informations- und Lesenzentrum des JESIE-Goethe Sprachlernzentrums ihre neuesten Werke vor. Eine gemeinsame Veranstaltung des JESIE Goethe Sprachlernzentrums mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Etwa 30 Interessierte waren gekommen, um den Gedichten der beiden Lyriker zu lauschen und Interessantes über ihren Werdegang zu erfahren. Obwohl Dieter M. Gräf und Sebastian Unger bereits mit 15 Jahren ihre Leidenschaft für Lyrik entdeckten, verlief ihre weitere Vita sehr unterschiedlich.

Der 1960 in Ludwigshafen geborene Dieter M. Gräf veröffentlichte seinen ersten Gedichtband bereits 1994, seitdem wurden seine Werke in Kroatien, der USA, Frankreich und eben auch in China erfolgreich veröffentlicht. Die Kulisse der pfälzischen Industriestadt Ludwigshafen mag vielleicht nicht sehr inspirierend für das Verfassen von Gedichten sein, trotzdem fühlt sich Gräf noch immer fest mit seiner Heimat verbunden. In den 1980er Jahren wechselte Gräf jedoch auf die andere Rheinseite, um in der Mannheimer Lyrikszene Fuss zu fassen. Das Vorhaben mißlang zunächst, erfolgreicher dagegen verliefen spätere Versuche rheinabwärts in Köln sowie in Berlin. In einer Zeit, in der die Wörter „Start Up“ oder „Smartphone“ noch unbekannt waren, war die Publikation bei einem renommierten Verlag noch gleichbedeutend mit dem Eintritt in eine erfolgreiche Lyrikerkarriere. Genau das gelang im Jahr 1994, als der Suhrkamp Verlag sich entschied, Gräfs Gedichtband „Rauschstudie: Vater + Sohn“ zu veröffentlichen. Seitdem hat sich Gräf den Ruf eines Lyrikers erworben, der konsequent seinen künstlerischen Weg geht. Viele seiner Werke wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Sein späterer Werdegang führte ihn unter anderem nach Rom, New York, Auxerre in Frankreich und nun schließlich nach China. Seit September ist Gräf im Rahmen des „Artist in Residence“-Programms der Universitäten Göttingen, Nanjing sowie des Goethe Instituts China als Residenzdichter bei der Germanisitikabteilung der Nanjinger Universität beschäftigt.

Seine Vorliebe für Asien und speziell China entdeckte der 1978 in Berlin geborene Sebastian Unger während einer Rücksackreise 1997 nach dem Abitur. Mit dem Zug ging es von Pakistan hoch hinaus über den Karakorum Highway nach China. Aufgewachsen ist Unger jedoch in Ostberlin in Zeiten vor dem Mauerfall und somit in einer ganz unterschiedlichen Umgebung als sein Pfälzer Lyrikerkollege. Unger erlebte auch die wilden und heute legendären 90er Jahre in Berlin, als Wohnraum überall verfügbar und günstig war und ein leerstehendes Staatsministerium der verblichenen DDR kurzerhand zu einem Techno-Tanzpalast umgebaut wurde. Der Lyrikpreis des 19. Open Mike im Jahr 2011 bedeutete gewissermaßen den Durchbruch für den Ostberliner Lyriker. Nun wurden die Verlage auf ihn aufmerksam, doch dauerte es noch sieben Jahre bis Unger sein Erstlingswerk „Die Tiere wissen noch nicht Bescheid“ erfolgreich zur Publikation brachte. Obwohl der erste Versuch bei einem kleinen Verlag an einer Insolvenz scheiterte, verlor Unger sein Ziel nicht aus den Augen. „Die Tiere wissen noch nicht Bescheid“ erschien 2018 und wurde im Folgejahr mit dem Frankfurter Lyrik-Preis sowie dem Düsseldorfer PoesieDebüt Preis ausgezeichnet. Nun pendelt der Berliner zwischen seiner Heimatstadt und Shanghai, wo er an der Tongji-Universtät als DAAD Lektor arbeitet.

Im anschließenden Werkstattgespräch berichteten die beiden Lyriker über den Wandel der deutschen Lyrikerszene. Mittlerweile sind viele kleine Verlage neben den großen entstanden, auch die Digitalisierung hat ihren Teil dazu beigetragen. „Die Szene steht vielleicht etwas abseits der Belletristik“, berichtet Gräf. „Es ist hier schwieriger, viel Geld zu verdienen“. Anderserseits sei die deutsche Dichterszene sehr familiär und solidarisch, dabei extrem vielseitig und kreativ. Mittlerweile hat die Bundeshauptstadt Berlin auch im Bereich der Lyrik die Führungsrolle übernommen. Als zweites Zentrum hat sich in den letzten Jahren Leipzig etabliert.

„Doch woher beziehen Lyriker ihre Inspiration für Gedichte?“ möchte ein Zuhörer aus dem Publikum wissen. „Man kann das nicht planen, man findet sie oft dort, wo man sie nicht vermutet“, antwortet Unger und berichtet über seinen Aufenthalt in einem kargen 300 Einwohnerdorf nahe Hamburgs. Kahle Felder, ein bleigrauer Herbsthimmel, in Sichtweite das Atomkraftwerk. Unger schwingt sich auf sein Fahrrad, um fernen Horizonten entgegenzuradeln und ersinnt dabei Gedichte wie „Miniaturen an der Schwalbe“:

"Die Versuchung an der Flugbahn der Schwalben festzumachen

an den Stellen wo sie gewesen sind,

das Ruder noch herumzureißen,

kurz vor dem Aufprall gegen das Fenster,

den Schnurwinkel an dem sie vertäut und gesichert,

diese magnetische An- und Abstoßung ausüben,

das eine Ende der Welt und seine Entladungshemmung,

in der anderen fest verankert, den Spanndraht,

der sie im Wetterstillstand aufreibt,

und zur Wiese hin beschleunigt, behutsam

anzuheben vom Nagel,

eine Wäscheleine die im Hof zu Boden geht,

und das Aufgefädelte zusammen,

mit all dem Nützlichen ins Haus zu tragen,

einen Ballen,

dass es sich mischt, für immer."

Text: Florian Welzel